Zum ersten Mal seit Bestehen der 1998 eingerichteten Samuel Fischer Gastprofessur hatten wir im Sommer keine Autorin , keinen Autor zu Gast in Berlin.  Umso mehr freuen wir uns,  dass im Wintersemester die Professur mit der Schriftstellerin Samanta Schweblin fortgeführt wird!

Den vergangenen Sommer haben wir genutzt und Berichte und Texte unserer Gastprofessor*innen, den Studierenden und unseren Partnern gesammelt und hier veröffentlicht. Sie geben einen Eindruck, wie sie die Situation mit dieser „anderen Welt“ erlebt haben – von Bernardo Carvalho aus der Metropole São Paolo, bis zu Teresa Präauer aus ihrer Wohnung in Wien.

 

 

"Es ist eine andere Welt. Eine Welt, die Angst macht."

Das Coronavirus trifft die süd- und mittelamerikanischen Länder besonders hart.
Die angespannte und schwierige Situation, die unsere Gastprofessoren in ihren Heimatländern erleben, schildern sie u.a. in Zeitungsartikeln und in persönlichen Botschaften.

Foto: Sao Jose dos Campos - State of São Paulo, Brazil - by Pedro Céo on Unsplash

Das ganze Ausmaß der katastrophalen Lage, in der sich insbesondere Lateinamerika aktuell befindet, beschreiben zwei unserer Gastprofessoren in Artikeln für El País: Der nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramírez (Gastprofessor im Sommer 2001) und der kolumbianische Schriftsteller Juan Gabriel Vásquez (Gastprofessor im Sommer 2021).

Bernardo Carvalho

São Paulo, Brasilien (Gastprofessor Winter 2019/20)

Insbesondere Brasilien leidet immens unter der Pandemie. Bernardo Carvalho hat einen Text geschrieben, wie er die Situation in São Paulo und den Umgang von Jair Bolsonaro mit dem Coronavirus erlebt.

 

On confinement

A few days before the shelter-in-place order from the local authorities was implemented in São Paulo, I met an actress I know from Rio, from the days when she was an adolescent and I a sophomore. She seemed dazed and lost, admiring a derelict house a few meters from my building. She was amazed to see me, as if I were some displaced ghost from the past. She told me that she’d just been informed that the play she was rehearsing would be indefinitely postponed due to the coronavirus. She was in a state of shock, wandering the streets of my neighborhood as if seeing the world for the last time. She told me how lucky I was to be a writer at this unhappy and strange moment, having enough suspended time before me to write all the books I had postponed for various reasons, while her life as an actress seemed to be over.

I didn’t react at that moment. But now, after little more than a week of confinement and after listening to the president’s loathsome speech on TV, I could tell her how weird it feels to be a writer (and a citizen) in social isolation while the government takes advantage of a pandemic in order to fulfill its plans against the people and the country. There is little writing possible under these circumstances. Everything becomes distraction, impotence, urgency and anger. It felt like this already before the pandemic. The confinement only turned that which seemed more abstract and impalpable after his election into a magnified paradigm. It gave our impotence a concrete representation. And this is where I am now, hostage to an allegory that happens to be real.

Like some neighbors I can hear around the block, but not in my building, I also resort to howling and banging pots out of my window as a way of protesting against the president and calling for his ouster, while awaiting the worst, the expected carnage when the virus reaches the slums and the poorest.

He has said on TV that this is no worse than a simple cold, that people should go back to work and that the media is behind what he insists on calling “hysteria”. Some predict that this will be his end. But a few days ago he also mentioned that it isn’t yet time to decree a state of siege, letting us know what he has in mind, sending us a warning message about what may come. It would be the perfect timing actually, since we’re confined, and going out on the streets would now be a suicidal move.

They’ve tried to proceed with their autocratic project behind the scenes, pushing for the overturning of democratic laws and the Constitution. At first sight, the pandemic may seem an unpredicted obstruction to their project, but it also may serve them as an excuse to speed up their plans. A coup d’état would in fact be a way for his military ministers to take hold of the situation, silencing any dissent or criticism, while giving the president a free hand and a way out of this mess. For now, he has opted to a murderous and desperate strategy: a propaganda war against the lockdown.

So this is what I would tell the actress if we happened to meet again now, this is what occupies my writer’s mind, confined to my apartment late at night, long after the yelling and pot-banging have given way to an unpeaceful silence, as if the inevitable was not enough and the barbarians – not only the virus – were already here, hidden around us, waiting for dawn to launch their attack.

São Paulo, Spring 2020

Artwork: Courtesy of Jürgen Mayer H., Designer of the Year 2020, Sao Paolo Design Week - an international forum of architecture, design and art, based in Sao Paolo, Brazil - www.boomspdesign.com.br.

 

#HomeStories

Auch in den anderen Gebieten der Welt verändert das Coronavirus das Leben und die Routinen der Menschen.

Wir begleiten hier das Wirken und die Wahrnehmung unserer Gastprofessoren, Projektpartner und Studierenden, die uns Ihre Gedanken und Eindrücke in verschiedenen „Home Stories“ und Veröffentlichungen schildern. Wie gehen sie mit der aktuellen Situation um und was macht sie mit ihnen?

Teresa Präauer

Wien, Österreich (Gastprofessorin Sommer 2016)

Wohin ich reise, wenn es nur mein Zimmer ist
(das eine Wohnung ist, immerhin)

Ich werde mich waschen am Morgen
und möchte dabei an das kalte, blaue Wasser in Kroatien denken,
wo man mit dem Boot von der Stadt aus eine halbe Stunde lang zu dieser kleinen, felsigen Insel fährt,

wo man Oktopus zu Mittag isst, gebraten in Olivenöl.
Ich werde meine missratenen Semmelknödel in Wien essen 
und dabei an den gebratenen Oktopus in Kroatien denken – so viel Phantasie muss sein!
 
Ich werde am Nachmittag meinen Kaffee brauen auf der viel zu saubren Induktionsherdplatte, 
und ich will dann nicht vergessen, die Kanne vom Herd zu nehmen, 
und wenn es doch wieder verbrannt riecht, möchte ich an frisch gemahlenen Espresso denken in der Bar dort in Rom.
 
Ich weiß, ihr findet Rom kitschig, und Espressotrinken an der Bar in Rom noch viel mehr,
aber ich halte mit meinem verbrannten Kaffee von der Induktionsherdplatte dagegen, 
und aus der Differenz ergibt sich dann die Wirklichkeit,
 
die ist nicht kitschig,
sondern schwarz
mit etwas Weiß darin 
von der Milch, die noch nicht verdorben ist, 
denn ich habe rechtzeitig daran gedacht, welche zu kaufen, 
und sie war nicht ausverkauft wie Klopapier, wie Fleisch, wie Nudeln.
 
Ich kann ganz gut ohne Nudeln auskommen, ich forme Semmelknödel aus altem Brot
und koche mir Kartoffeln
und denke an meine Freunde, die ich früher gern eingeladen habe
 
und setze am Abend meine Stofftiere um den Tisch herum
und gebe ihnen Namen.
Ich proste allen zu mit Wasser statt mit Wein
und trinke den Wein ganz allein,
 
und sie lachen und sagen, sie haben keine Angst.
Mei, ihr seid halt nur Stofftiere.
 
Die Freunde rufen in der Nacht noch an, vor dem Schlafengehen, 
sie haben a) keine Angst oder b) große Angst.
 
Ich kann ihnen auch nicht viel raten, die ängstlichen machen mir Angst,
und die zuversichtlichen stimmen mich zuversichtlich.
 
Beide haben vielleicht nicht ganz recht, denke ich,
und der Bär nickt mir zu, er sagt damit, dass er meine Sicht auf die Dinge teilt.
 
Ich werde aufstehen, jeden Tag,
ich werde mich anziehen, jeden Tag,
ich werde arbeiten oder zumindest so tun, als würde ich arbeiten, jeden Tag.
 
Ich werde die Fenster öffnen und schließen, 
ich werde Radio hören und Musik, werde lesen und nachdenken,
werde durchs Internet surfen 
wie auf dem Surfbrett in San Sebastián, damals auf Interrail im Jahr 1999, als wir von Österreich aus nach Deutschland und nach Dänemark und in die Niederlande und nach Frankreich und nach Spanien gefahren sind.
 
Ich werde mir – Selbstmitleid und Weltschmerz!, sagt ihr, aber die Kommentare sind mir jetzt egal – ich werde mir ein bis zwei salzige Tränen aus dem Gesicht wischen 
und dabei an das kalte, blaue Wasser in Kroatien denken, wo man mit dem Boot von der Stadt aus eine halbe Stunde lang zu dieser kleinen, felsigen Insel fährt und so weiter.
 
Ich werde den Bären küssen, aber dabei nur an dich denken,
und der Bär wird sagen: Jetzt werd mir nicht gleich untreu,
die Quarantäne dauert doch auch keine Ewigkeit!
 
Wien, Frühjahr 2020

Cara Enders

studiert Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Im Sommersemester 2019 nahm sie am Seminar von Madeleine Thien und Rawi Hage teil.

I am experiencing the lockdown in my shared flat in Friedrichshain where I live with two young women, one of whom has an eight-year-old boy.

When the lockdown began I started to take a picture every day. Sometimes in the flat, sometimes in the rare moments outside.

In total I have shot seven films – until now.

Cara sent us her photo documentary of four weeks in March and April 2020 from Berlin-Friedrichshain.

 

Berlin, Spring 2020

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Eine Marke der Studio ZX GmbH

TORSTRASSE 42 | 10119 BERLIN 
TEL +49 (0) 30 27 87 18-0 
CONTACT: VANESSA MARZOG
E-Mail: sfgastprofessur@holtzbrinck-berlin.com

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